Lieber Gaetanello, dieses elektrisierende Blau, hast du es vielleicht abgeschaut von einem der Dächer Chagalls, von seinen Geigen in der berauschten Hand der bärtigen Rabbiner? Oder stammt das Flaschengrün, das sich mit dem emaillierten wertvollen Kobaltblau wunderbar mischt und den Eindruck eines Waldes erweckt, etwa von einer Moschee? Ich fühle mich erinnert an die lebhaften Landschaften aus der Palette Ennio Morlottis. Oder deine vergoldeten screens, die byzantinische Wunden in die Klagemauer schlagen (dahinter ruft ein Muezzin pünktlich sein Lamento) – sind sie verwandt mit den schwindelerregenden szenischen Utopien von Craig? Doch inzwischen gehören die Wegbegleiter auf der Suche nach dem Stein des Weisen ganz dir. Deine Bilder öffnen sich mit der Gier eines hungrigen Ofens. Ich sage dir das als Venezianer, der an den Zattere gegenüber der Giudecca wohnt, von wo aus es nicht weit bis nach Murano und den dortigen Glasmanufakturen ist. Weißt du, dass Ariel und Ghisola, also d’Annunzio und Eleonora Duse, sich in jenen alchemistischen Labyrinthen verloren, zwischen dem Gras am Ufer der Kanäle, in der Nähe der Glut und fluoreszierenden Pasten, bevor sie in gläsernen Formen fixiert werden? Dies steht im Zentrum von „Il Fuoco“, jenem Roman, der im ersten Jahr des kurzen 20. Jahrhunderts erschienen ist. Im Hintergrund deiner Bilder beanspruchen semitische Kandelaber einen primären Raum, während sich geheimnisvolle Kelche stolz und scharf erheben und dich dringend bitten, ihre eisigen Epiphanien zeigen zu dürfen. Doch es sind die Bäume, die dich anziehen, Bäume, die du in dir trägst, einem jugendlichen Idyll nach Segantini oder Previati nachfolgend, jedoch ohne den Dekor des beginnenden Wiener Jugendstils. Handelt es sich um mediterrane Pinien, die du von deiner wunderbaren Heimat her kennst – oder sind es nordische Birken, die durch deine germanische Verortung aufblühen, aus Liebe zur schönen Elisabeth? Tatsächlich brechen deine hinter der malerischen Hülle verborgenen Christusdarstellungen hervor – angesichts von Daphne, die sich in einen winterlichen Busch verwandelte, um den Nachstellungen Apolls zu entgehen und in Anbetracht des Selbstmörders Pier della Vigna bei Dante, der zu bluten beginnt, wenn man einen Ast/Arm abreißt. Denn in der Groteske oder in den von Bachtin in den Grotten untersuchten Wandgemälden zur Zeit der Verfolgung der Märtyrer und Heiligen kam es zu einer Explosion antiker Träumereien: die Groteske vereinte die Welt der Pflanzen, Tiere und Menschen und der Sohn Gottes symbolisierte sich in den floralen Sinnbildern, die sich nach oben ausrichteten, ein sicheres Zeichen der Wiederauferstehung.
Dein Freund, der Baum, erwacht jedes Frühjahr neu und wird wiedergeboren, im Gegensatz zu unserem armseligen Körper, der im grausamsten Monat, dem April (woran Eliot erinnert), Erinnerungen und Wünsche vermischt, wenn es bereits zu spät ist und das Fleisch nicht mehr reagiert. Deine baumartigen Kandelaber erheben ihre Arme in einer freudigen Hymne der Hoffnung. Es reicht, ihnen zuzuhören, anstatt sich von ihrer Kraft blenden zu lassen. Es ist dieselbe Kraft, die von deiner sanftmütigen und zugleich eigenwilligen Persönlichkeit ausgeht. Trotz allem bleibst du zuversichtlich und stets offen für das Geschenk der Freundschaft. Ja, Gaetano, deine Bäumchen und gewurzelten Bäume sind wie trunken von einem wässrigen mondartigen Licht, in dem sie sich spiegeln und die Umrisse in stiller Spannung vermenschlichen und sprenkeln. Inzwischen ragen die Bäume nicht in die nächtliche Luft, sondern in tiefes Wasser. Wie unersättliche Narzissen tauchen sie ein, zitternd vor kaltem Vergnügen. Daher auch die Symphonie von Diptychen, Triptychen und Polyptychen, die ihre schweigende Unbehaglichkeit deklinieren und skandieren. Langsam fallen die Blätter als Blütenblätter, deren Adern bis in die feinsten Verästelungen von einem milchigen Eiweiß durchzogen sind. Zugleich leuchtet weiter oben Schaum roten Bluts auf und flackert, möglicherweise als Rest dunkler Opferrituale und noch weiter oben zeichnen sich Pferde ab, galoppierende bläuliche Streifen, die indirekt von Wirbeln, von tödlichem und zugleich vorübergehendem Ertrinken erzählen.
Im Zentrum stellt sich oft ein ritueller Kelch dar, der am Boden in Splitter ausfranst, in dem sich grünliche Strömungen vermischen, die sich von sumpfigen Flaschenglasfarben oder einer Marengo-Mischung in frisches Moosgrün und schließlich in ein himmelblaues kaltes Leuchten verfärben. Anderswo erscheint der Himmel geschichtet, er häutet sich nach und nach und wird Dunkelblau, um die Nacht wie in einer Weihnachtskrippe zu erhellen. Überwiegend eisige Stimmungen, die sich jedoch zugleich erwärmen und entzünden können wie in den Fresken Pompejis – oder sie wandeln sich in ziegelrote Rostfarben oder violette Halbschatten. Auf diese Weise wirken auch ein triumphierendes Ocker, ein blendendes Orange oder bezaubernde Senftöne im Zusammenspiel mit Rechtecken, Prismen und Quadraten. Rahmen, die aufeinander gleiten, um atemberaubende Rhythmen und eine tanzende mise en abyme zu bilden. Und alles, wirklich alles, strebt nach oben und über das Bild hinaus. Ich sehe dich, Gaetano, ein über das andere Mal, mit deinen tropfenden Pinseln wie einen unzufriedenen Faun nach zu raschen Umarmungen, in ungelöster Konfrontation mit einer notwendigerweise kontrollierten Grausamkeit. Allenthalben sind es Voluten, Flügel und Biegungen, die das Geometrische aufbrechen, verbiegen und abmildern mit Parabeln und der Sehnsucht nach Rundungen – Mutterschöße, die beruhigender sind, als die heraldischen Geografien und die deprimierenden Friedhöfe nach der Schlacht. Immer wieder zeigt sich in den Pinienhainen, die obsessiven Tentakeln gleichen, so mancher Buchstabe eines dunklen Alphabets, ein H, das zu schwingen scheint wie eine Kinderschaukel. Gekalkte Formen, kupferrote Umrisse und flüssige Trugbilder verleihen dem Farbenspektrum eine spiritistische Bedeutung. Und du erscheinst mir, Gaetano, plötzlich ruhig, gleichsam befriedigt nach so viel wütendem Erforschen von immer neuen Dimensionen. Der Olymp deiner illustren Archetypen, die Reihe der großen Vorbilder der Avantgarde wie Kandinsky, Miró, Rothko, Tanguy sowie Licini und Soldati in Italien, um nur einige aufzuzählen, die du in deiner langen Lehrzeit verinnerlicht hast – sie alle treten zurück angesichts von so viel Autonomie und bezeugen zugleich deine Reife. Dem visionären Strudel entsteigst du mit deinem persönlichen Idiolekt, auf den du dich verlassen kannst und der dir ein freies Atmen erlaubt. Damit kannst du dem Baum-Kreuz-Kelch deine Hand reichen, die keine Kinderhand mehr ist, um damit endlich deine Seele zu beruhigen.
— Paolo Puppa — Venedig, Januar 2014
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