Da neigt sich die Stunde und rührt mich an
mit klarem, metallenem Schlag:
mir zittern die Sinne. Ich fühle: ich kann -
und ich fasse den plastischen Tag.
R. M. Rilke
Malerei – Literatur. Sprachen, die vielleicht in ihrer Ausdrucksweise weit entfernt voneinander sind – und doch so nah in der Intuition. Getrennte Künste in der Wahrnehmung ihrer Erscheinung, aber großartig wieder vereint im Kern des zerrissenen Wesens.
Hervorrufen: Das ist die ausschlaggebende Verbindung, die sie zusammenschweißt, wie die zwei verschmolzenen Seiten einer frisch geprägten Münze.
Ein klingender Wechsel, keinesfalls oxymoronischund natürlich synästhetisch, die gegenseitige Potenzierung zweier Monologe, die sich überschneiden, um sich dann in einem breiten Dialog zu lockern.
Dann dieselbe gegenseitige Abhängigkeit von der ästhetischen Notwendigkeit, das den Dingen innewohnende Geheimnis zu entziffern, indem man wartet, dass etwas sich im schöpferischen Prozess offenbart oder etwas geschieht. Dabei ist es nicht so wichtig, ob das wirklich erlebt ist oder sich nur in der Vorstellung ereignet. In beiden auch die anfängliche, verwirrte und ängstliche Hemmung, den hypnotischen Schimmer einer weißen Seite oder einer unbefleckten Leinwand zu stören. Doch auch der entschlossene Mut, die Herausforderung anzunehmen und eine eigene Spur zu hinterlassen – hier gedruckt durch ein geschriebenes Wort, da gezogen durch einen Pinselstrich.
Durch das Zeichen handeln, durch es wagen und sich der Gefahr aussetzen, die unwiederholbare Vollkommenheit zu zerbrechen, jenes ursprüngliche Gleichgewicht, das jeder willkürlichen Geste vorausgeht.
Ein Schritt, der riskiert, die Grenzen zur Hybris zu überschreiten, wenn er nicht durch die Strenge des Bewußtseins zur Selbstbestimmung gemessen wird. Und dennoch versuchen, mit glühendem Begehren jeder vollkommenen Stille Worte zu verleihen, Anwesenheit einer nur scheinbaren Abwesenheit zurückzugeben.
Nicht, dass man viel weiter geht, sondern dass man hier an dieser Stelle auftauchen lässt, was jenseits ist und doch existiert. Das Unendliche im Endlichen zeichnen, das Unermessliche im Geflecht von Erscheinungen einatmen, endlich erahnen können, neben einem Hier und Jetztauch ein Überall und Immer.
Aus dem umfangreichen literarischen Werk Rainer Maria Rilkes bevorzugt Gaetano Fiore das Stundenbuch, denn es ist ein poetisches passendes Beispiel, wie es einer überlegten Inspiration gelingt, Spontaneität mit Programmatik zu modulieren. Eine Art Gleichklangmit dem ästhetischen Maßstab der Malerei, in der Form und Inhalt harmonisieren, wie Stimmen, die zu einem Gesang verschmelzen, die eine wie eine natürliche Extension des anderen Man könnte sagen, dass die Strenge der Komposition einerseits die Autonomie des Schöpfens versiegelt und sie andererseits mit dem Drang des Tuns im romantischen Sinne potenziert.
Der Kern der Ausstellung „Stimmen in Farbe“ besteht gerade aus dem Zyklus von Werken, die das geduldige und wiederholte Lesen des Stundenbuch inspiriert hat. Das Sich-Versenken darin führt den Künstler dazu, den lyrischen Text auch in seinen verborgeneren Furchen kennen zu lernen, mit ihm zu interagieren, ihn zu metabolisieren, bis man seinen vielfältigen Zauber spürt. Daraus entspringt eine persönliche Interpretation, die den Geist der Quelle bewahrt, ohne jedoch Beschreibungen oder Paraphrasen zu verwenden, sondern indem der Maler ihre Klangwirkung durch seine Farbmischungen erweitert und bereichert.
Dem Inhalt eine Gestalt geben und der Form eine weitere Plastizität verleihen wird daher zur Voraussetzung, um einen unvergänglichen Kontakt mit dem geschriebenen Wort herzustellen und es wie einen wertvollen Edelstein einzufassen.
Dieselbe Architektur des Stundenbuch in drei Büchern, die zugleich als konkrete und seelische Ortschaften gelten, in denen Körperlichkeit und Abstraktion ineinander fließen, von innen nach außen und umgekehrt, materialisiert die instinktive Idee, die Kunstinstallation wie in drei idealen Kirchenschiffen zu strukturieren und zwar an den drei Wänden des Hauptausstellungsraums im Museum am Dom in Würzburg.
Wie in einem Schrein empfängt und behütet dieser Raum Ikonen und Polypticha, je einem der drei Bestandteile von Rilkes Werk gewidmet.
Der tryadische Rhythmus dieser Präsentation, strebt durch These und Antithese der geografischen und geistigen Etappen einer Reise – Florenz, Rußland, Paris – dialektisch zur Synthese einer Universal kunst.
Das Werk „Die Ikonen“, das sich auf das erste Buch „Vom mönchischen Leben“ bezieht, hängt an der Zentralwand.
Von den siebenundsechzig Gedichten inspiriert, realisiert Fiore ebensoviele Gemälde in einem kleinen Format in der Sequenz einer Art chiffrierten Alphabets auf großem Raum.
Jede Ikone entsteht gerade aus der emotionalen Lektüre eines Wortes, eines Reims, manchmal eines ganzen Verses. Der Unmittelbarkeit des Eindrucks, der geweckt wird, folgt dann eine gewissenhafte Studie, die sie enthält und gleichzeitig in einer kombinierten Intensität von Form und Farbe zusammenfasst.
Die Ikone ist in der Malerei das, was der Vers in der Lyrik ist: Ein Teil für das Ganze. Wie ein offenes Fenster in die Zeit kristallisiert sie im Raum Spuren von Ewigkeit, die unwiederholbare Heiligkeit jedes Augenblicks, der „nur ein Lächeln lang“ dauert.
Wenn der Vers das Ereignis oder eine Anspielung davon erfasst, um es vor seinem unvermeidlichen Verfall zu retten und es in einer sublimierenden Form zu verewigen, lokalisiert die Ikone ein Detail, isoliert es, entkernt es dann unter einer Lupe, die fähig ist, sogar dessen Unsichtbarkeit zu explorieren und beglaubigt es schließlich als eine Welt für sich.
Das Detail wird zu einem unberührten Universum, das man mit dem Herzen desjenigen erforschen soll, der sich dem Zauber des Lichtes und der Dunkelheit anzuvertrauen weiß. In Kontemplation.
Die Langsamkeit des mönchischen Lebens und seines zyklischen Rituals lassen eine Überlegung über die Zeit wurzeln, wie Getreide in einem fruchtbaren Boden. In Fiores Werken beruhigt sich die segmentierte Zersplitterung der chronologischen Zeit, die sich im Takt von gestern, heute und morgen definiert, aber auch sofort verzehrt, in einer verdünnten synchronischen Dimension, in der Zeit und Raum in ein Spiegelbild zusammenfallen. Denn die Zeit ist der immaterielle Raum und der Raum ist die wahrgenommene Zeit.
Die Idee, die symbolisch das in der Vergänglichkeit der Ereignisse steckende musterhafte Wesen zusammenfasst, bedeutet letztendlich, dieses Geschehen vor der unerbittlichen Gier der Strömung des Werdens zu schonen und es vollständig zu verewigen in „Rahmen für das Licht innerhalb der Einfassung der Zeit, Ruhestätten für die Dekantierung der Farbe“ laut einer Definition des Künstlers selbst.
Nur auf diese Weise sinkt die Parabel der Tage nicht vergeblich, sondern sie siegt über die Entropie der Vergessenheit, indem sie in den Palast des Gedächtnisses flüchtet, in den labyrinthischen Bau der Zimmer der Erinnerungen.
Die ganze Sektion „Das letzte Haus“, das aus dem „Triyptichon der Stunden“, Hommage an den Jazzmusiker Bill Dixon, und aus der Serie der „Gobelins“ besteht, entspricht dem „Buch von der Pilgerschaft“, dem zweiten Kapitel des Stundenbuch. Hier dehnt sich die Ikone in Portale und Glasfenster auf Leinwand aus. Fiores malerische Forschung wird weniger philologisch und geht, durch eine raffinierte Eleganz, alternative Sinnesmöglichkeiten in der Abstraktion erkunden.
Die Tiefe des philosophischen Denkens von Rilke wird durch ein chromatisches Experimentieren ausgelotet, dessen Immanenz nicht messbar ist; es ernährt sich nämlich von der eigenen Energie und schafft mit dem Außen Schattierungen von flüssigen Tönen in einer ununterbrochenen Spannung, die über sich hinausgeht.
Allmählich bremst der weitere Lauf der Pilgerschaft sein Fortschreiten; der Wanderer hält an einem Ort, an dem er sich ausruhen kann und sich nicht mehr heimatlos fühlen muss. Für ihn spaltet sich die feste Gelassenheit der Architektur der Farbe rätselhaft in Transparenzen, die wie Blitze einen alten Tempel der Moderne wieder schablonieren, auf dessen Schwelle er verweilen darf. In Erwartung.
Traumvisionen strömen in einer Fülle von lebendigen Schwüngen aus Zäunen von großen, strengen Streifen, von oben, unten und auf der Seite abgeschlagenen Rahmen mit den vier Fluchtwegen aus erscheinenden Kreuzen. Eingeschriebene und einschreibende Quadraturen schneiden kaum das aus, was von archetypischen Profilen, wiederkehrenden und chiffrierten Sequenzen von monolithischen Bäumen, übrig bleibt, fransen aus wie Stoffe, reissen auf wie Tapeten und verbrüdern sich mit dem Untergrund aus Leinwand.
Das Licht wird gefiltert durch das Gewebe, die Pigmente entzünden sich im Zauber jenes panischen Momentes, in dem die Schlingen des Majaschleiers, die unsere Sinne täuschen, schwächer werden.
Im „Polyptichon des Graals“, dem dritten und letzten Teil „Von der Armut und vom Tode“ gewidmet, deutet die Absolutheit der Farbe auf die stille Epiphanie einer reif gewordenen Zeit hin, die sich in der magnetischen Anmut einer mittelalterlichen Majestät zelebriert. Hier erhebt sich ein Altar, auf dem die leere Fülle eines Kelches, der aus den Wellen einer Landschaft – sei es Ebene oder Meer – hervortritt und sich mit Feierlichkeit in der Grenzenlosigkeit hängend abzeichnet.
Eine eindeutige Metapher des Erntens und Ausstreuens, des Empfangens und Hingebens und außerdem Frucht einer sehr persönlichen Transzendenz und einer dankbaren Religiosität. Nur jetzt scheint jene Grenzüberschreitung zwischen Himmel und Erde, zum Anfang und Ende, jenseits von Leben und Tod wirklich möglich. Das hatte schon 2008 Jürgen Lenssen in seinem erhellenden Essay „Der Baum und das Viereck“ in der damaligen malerischen Produktion Fiores intuitiv erahnt und vorhergesagt.
Die Widersprüche zerbröckeln, die Fragen erschöpfen sich. Im Horchen. Immanente und totalisierende Farben zerbrechen energisch die Form-Umhüllungen, die sie selbst haben keimen lassen, und überschwemmen Volumina, die nun unfähig geworden sind, die dickflüssige Flut einzudämmen. Mit der unabwendbaren Langsamkeit der Lava verschlucken sie den Rest.
Der geistige Lauf des Stundenbuch geht dem Ende zu. Das geschriebene Wort nähert sich wieder dem gesprochenen Wort, hebt endgültig die engen Umfänge aus den Angeln, die seinen Ausdruckswert lähmen, erhebt sich dann senkrecht in einem Gebet, in einer Mystik in den Dingen und im Götterfunken, der aus ihnen herausstrahlt.
Eine eroberte Weisheit: Nicht nur die Spuren der Unendlichkeit in der Endlichkeit erkennen und sie ans Licht auftauchen lassen, wie das Gold im Fluss, sondern auch in der Grenze einen Übergang entdecken, im Ende einen Anfang, im großen Tod das wahre Leben.
Der Altar, der Rand, der Saum, die Schwelle erläutern beispielhaft, in ihrer metaphysischen Symbologie der mächtigen visuellen Wirkung eines Bühnenbildes, die besondere und enge Verwandtschaft von Literatur und Malerei.
Rilke kann dem Wort eine Gestalt verleihen und es dann meißeln wie einen Stein, um seine Essenz herauszuschälen. Seine Gedichte werden zu Dingen, die die stoffliche Wirksamkeit eines Bildes von Cézanne und die plastische Stärke einer Skulptur Rodins besitzen.
Fiore will, dass sich das Wort in der Farbe verkörpert, damit sich sein Klang in seiner entsprechenden Bedeutung widerspiegelt bis zur vollkommenen Übereinstimmung.
„Die steigenden Stimmen der Zeit“ hallen wider in seinen Werken wie in der Schale von in Abgründen versunkenen Muscheln und gehen von ursprünglichen Tiefen wieder hinauf mit derselben Notwendigkeit wie der Sauerstoff, der zur Oberfläche drängt. Die Pigmente, deren systematische und ausdauernde Auftragung an ein musikalisches Ostinato erinnern lassen, wimmeln von plausibeln literarischen Verweisen.
Die Dynamik von Blau ist auch jene der unaussprechlichen Sehnsucht nach dem Unendlichen bei Novalis. Die monumentale Selbstständigkeit von Rot trägt auch manchmal Züge des Fiebers wie jene in der phantastischen Vorstellungswelt bei E. T. A. Hoffmann. Das geschmeidige Schillern von Grün skizziert die Atmosphären in einigen Märchen von L. Tieck.
Und, in den lyrischen Unterbrechungen mittels Erzählpausen, könnte da nicht etwa die Nicht-Farbe Weiss, die durch die Jute oder das Leinen der nackten Unterlage blickt, auch eine visuelle Andeutung auf das „Offene“ der Achten Duineser Elegie bei Rilke sein, nämlich auf die Überwindung der traditionellen Kategorien von Raum und Zeit, die uns die Kenntnis der Dinge an sich versperren?
Andrea Petrai — Museum am Dom Würzburg, Februar 2015
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